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%T (Hoch-)Schule als Replikantenfabrik? Herrschaftsinstrument(e) zur Produktion, Reproduktion und Legitimation der gesellschaftlichen Ordnung
%A Wall, Anna
%A Hudelmaier, Johannes
%P 236
%D 2012
%> https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-373531
%X Die rund 240 Seiten umfassende Gemeinschaftsarbeit von Anna Wall und Johannes Hudelmaier beschäftigt sich mit aktuellen Veränderungen der Bildungssysteme und einer veränderten Bedeutung von Bildung. Johannes Hudelmaier und Anna Wall spannen für ihre Analysen einen weiten Bogen, der die Positionen von Karl Marx, Pierre Bourdieu und Michel Foucault umschließt. Das so bereitete Instrumentarium wenden sie auf das Feld „Schule“ und die aktuellen Bildungsreformen in der Hochschule an. Vor diesem Hintergrund formulieren sie eine scharfe Kritik an den gegenwärtigen bildungspolitischen Entwicklungen. Um es vorwegzunehmen, es handelt sich nicht um eine oberflächliche und wohlfeile Kritik, sondern um eine fundierte Auseinandersetzung. Die  Arbeit ist in 24 Kapitel gegliedert, wobei mit „Kapitel“ alles gemeint ist, also auch Prolog und Literaturverzeichnis. Im Prolog wird geklärt, worauf sich der Titel der Arbeit bezieht: der Begriff „Replikant“ entstammt dem Film „Blade Runner“ und bezeichnet menschliche „Klone“, die alle menschlichen Eigenschaften  außer der Empathiefähigkeit verkörpern.  Frau  Wall und Herr Hudelmaier sehen in diesem Science Fiction Film einen Spiegel aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen, und der Replikant ist ihnen ein wichtiges Symbol hierfür. 
In der Einleitung erfolgt die nähere Begründung der Themenwahl: das zunehmende Zurückdrängen eines Verständnisses von Bildung als Selbstzweck zugunsten von gesellschaftlichen Verwertungsinteressen. Um diese These zu beleuchten, befassen sich die Autorin und der Autor der Arbeit zunächst mit Theorienangeboten, die dazu beitragen, die gesellschaftlich vermittelten Bildungsverhältnisse zu betrachten: Marx, Bourdieu und Foucault, um diese dann auf die beiden von ihnen bestimmten Anwendungsfelder zu beziehen: Schule und Hochschule. 
Zum Selbstverständnis ihrer Arbeit schreiben sie: „Die vorliegende Arbeit sieht sich ferner im Gestus einer radikalen Kritik: einer Kritik, die sich weder einem Ergebniszwang noch einem Zwang zur Formulierung konkreter, alternativer Handlungsanweisungen unterwirft, die sich darüberhinausgehend nicht darauf beschränkt, innerhalb eines politisch festgelegten Koordinatensystems Stellung zu beziehen und sich ebensowenig scheut, sich in Gegensatz zu diesem zu stellen.“ (S. 14)
Im Teil „Theorie“ geht es im ersten Kapitel um Karl Marx. Dieser Teil wurde von Johannes Hudelmaier verfasst und fokussiert vor allem die Schrift „Das Kapital“. Eingehend diskutiert der Autor die zentralen Begriffe und Zusammenhänge der Marx’schen Theorie, wobei er die Bezüge zum Erkenntnisinteresse der Arbeit klar herausarbeitet.  Aus der Perspektive der Marx’schen Theorie betrachtet, stellt sich Bildung vor allem als mehrwertorientierte Bildung dar, in der „Bildung, Forschung und Lehre zunehmend den Verwertungsinteressen des Kapitalismus unterworfen werden.“ (S. 32). Im Anschluss an Holger Schatz identifiziert Johannes Hudelmaier vor allem den Bologna Prozess als exemplarisch für die Verengung von Bildung auf arbeitsmarktbezogene Qualifikation. Das vierzig Seiten umfassende Kapitel zu Bourdieu ist von Anna Wall verfasst und beschäftigt sich mit zentralen Bestandteilen Bourdieu’scher Theorie:  Frau Wall beginnt mit Ausführungen zum Bourdieu’schen Konzept der symbolischen Gewalt, weil es hier um die zentrale Frage der Akzeptanz eigentlich unerträglicher sozialer Verhältnisse geht. Zur Diskussion steht also die Verstrickung der Beherrschten an ihrer Beherrschung, denn diese ist entscheidend an der Aufrechterhaltung und Legitimation der bestehenden Ordnung beteiligt. In diesem Kontext also steht die symbolische Gewalt. In einem nächsten Schritt wird die entscheidende Modifizierung des Kapitalbegriffs durch Pierre Bourdieu vorgestellt, der wiederum mit den Begriffen „Sozialer Raum“ und „Soziales Feld“ sowie dem mit Bourdieu besonders eng assoziierten Begriff des „Habitus“ verbunden ist. Besonders letzterer wird aufgrund seiner großen Relevanz für das Erkenntnisinteresse der Arbeit intensiv diskutiert und mit anderen Themen in Beziehung gesetzt, vor allem der Sozialisation und der Entwicklung von Dispositionen. Nach dieser Fokussierung auf das Individuum nimmt Frau Wall Bourdieus Ausführungen zu Herrschaft, Macht und gesellschaftlicher Ordnung in den Blick. Das Kapitel schließt mit einer Betrachtung des Verhältnisses der Beherrschten an herrschenden Verhältnissen. Das fünfte, ebenfalls über vierzig Seiten umfassende Kapitel stammt wiederum von Johannes Hudelmaier. Es beginnt mit einer kurzen Kommentierung der Vielschichtigkeit und Diskontinuität des Foucault’schen Werkes und einer ersten Nennung der im weiteren Gang der Darstellung eine wichtige Rolle spielenden zentralen Begriffe. Der erste der eingehend erörterten Begriffe ist die Foucault’sche Fassung von Wissen, der wiederum eng mit dem foucauldianischen Verständnis von Macht zusammenhängt. Daran wird eine Präsentation des Diskursbegriffes angeschlossen, der im Theoriegebäude Foucaults eine besonders wichtige Rolle spielt. Dieser wiederum hängt zusammen mit Foucaults Verständnis von Dispositiv. Intensiv setzt sich Johannes Hudelmaier mit Foucaults Machtanalytik auseinander und grenzt den Machtbegriff von den benachbarten Begriffen Regierung und Herrschaft ab. In mehreren Unterkapiteln widmet sich der Verfasser wichtigen Facetten des Foucault’schen Machtbegriffs: mit dem Handlungsaspekt, dem Produktivitätsaspekt; dem Problem des Widerstands und der Repressivität von Macht. Subjektivierungsprozesse sind immer machtförmig, denn Subjekt meint nicht nur emphatisch das autonome Individuum, sondern auch das unterworfene. Von hier aus ist es kein großer Schritt mehr zur Erörterung von Fremd- und Selbstregierungsprozessen und -formen, für die Foucault den Begriff der Gouvernementalität geprägt hat. In den anschließenden Überlegungen, werden die Stränge der bisherigen Darstellung zusammengeführt, historisch vertieft und mit Foucaults Gesellschaftstypologie verbunden. Eine besonders wichtige Rolle spielen hierbei die Bezeichnungen Disziplinargesellschaft und in Weiterentwicklung dieser durch Gilles Deleuze die Bezeichnung Kontrollgesellschaft. Johannes Hudelmaier nimmt dies zum Anlass, um den Begriff des Neoliberalismus als eine mögliche Charakterisierung spätmoderner Gesellschaftsverhältnisse einzuführen. 
Im von beiden: der Autorin und dem Autor verfassten sechsten Kapitel werden die Theorieansätze zusammengeführt und vergleichend diskutiert. Ab S. 120 beginnt der zweite große Teil der Arbeit: die Anwendung auf spezifische Felder: Schule und Hochschule. Zunächst werden unter Kapitel 7 (Anna Wall) die Funktionen von Schule erläutert und mit den vorgestellten Theorien in Verbindung gebracht.  Unter 7.2. „Qualifikationsfunktion“ wird beispielsweise der Begriff der Bildung nochmals auf den Bourdieu-Teil bezogen und als inkorporierte Akkumulation von  Kulturkapital gefasst. Weitere wichtige Qualifikationsziele sind die Persönlichkeitsentwicklung und die Qualifikation für den Arbeitsmarkt. Die Frage nach der Legitimität spielt eine besonders wichtige Rolle, denn die schulischen Inhalte, an denen die Bildung der Schüler gemessen wird, brauchen eine entsprechende Fundierung. In diesem Zusammenhang ist das „Passungsverhältnis“ zwischen der schulischen und der Herkunftskultur anzuführen. Dies diskutiert Frau Wall unter den Stichworten homologer und bildungsferner Habitus.
In Kapitel 8 nimmt Johannes Hudelmaier den schulischen Leistungsimperativ in den Blick und beleuchtet diverse zentrale Aspekte wie die Leistungsbeurteilung, die daraufhin orientierte spezifische Form schulischen Lernens, aber auch die Verknüpfung von Leistung mit sozialen Hierarchiebildungen. Die folgenden Kapitel zu symbolischer Gewalt im pädagogischen Feld sowie die Prüfung als zentraler Subjektivierungsmechanismus, Schule als Dispositiv und Reformpädagogik als Gouvernementale Strategie - alle Teile von Johannes Hudelmaier - zeigen den Ertrag der Verknüpfung von Theorie und Feld. Denn erst vor dem Hintergrund der im ersten Teil vorgestellten theoretischen Ansätze erhält die feldspezifische Analyse ihre Tiefe und Schärfe. Besonders hervorzuheben ist, dass sich das 13. Kapitel mit dem Konzept der Entfremdung auseinandersetzt und damit nochmals explizit die Brücke zu Marx schlägt. Damit wird deutlich, dass es sich bei dem Referat zum „Kapital“ nicht nur um die Vorgeschichte moderner Theorieentwürfe handelt, sondern um einen zentralen Baustein der Arbeit. Dies trifft ebenso auf den von Anna Wall verfassten Teil zu den Hochschulreformen zu. In Kapitel 14 befasst Anna Wall sich kritisch mit dem Bologna-Prozess und ordnet diesen in  das politische Projekt der Europäischen Union ein. Dazu passt ihre Diskussion von PISA in Kapitel 15 als einem zentralen bildungspolitischen Instrument einer weiteren großen Internationalen Organisation – der OECD. Diese Maßnahmen und Programme relationiert sie in Kapitel 16 mit dem Neoliberalismus. Hier setzt sie sich sehr eingehend mit der veränderten Rolle des Staates auseinander, mit der Re-konstellierung von Politik und  Ökonomie unter dem Primat des Ökonomischen, der wiederum für den neuen Imperativ der internationalen Wettbewerbsfähigkeit verantwortlich ist. In diesen Kontext ist die Konjunktur des bereits in der vergangenen Jahrhundertmitte geprägten Begriffs des Humankapitals einzuordnen. Auch das Lebenslange Lernen  ebenso wie die Rede von der Wissensgesellschaft gliedert  Anna Wall in diesen übergreifenden Zusammenhang ein. In den folgenden Kapiteln vertieft sie diese Zuordnung mit einer primär an Foucault orientierten Analyse. 
Kapitel 20 – auch dieses wurde von Frau Wall verfasst – bezieht die beiden Felder: Schule und Hochschule aufeinander, in dem als tertium comparationis das Thema Standard und Qualität als gemeinsamer Bezug definiert wird. Ein gemeinsam verfasstes Finale, in dem der Ertrag der Arbeit auf 30 Seiten nochmals zusammengefasst wird, vervollständigt die Schrift. In diesem nehmen sie die These der Arbeit nochmals auf, dass es sich bei den aktuellen Reformen um Anpassungen der „Ware Mensch“ an einen „entfesselten Kapitalismus“ handelt. Sie begründen ihre Argumentation und stellen als Fazit fest, dass die Mikrophysik der Macht, die feingliedrigen Regierungstechniken, die vielfältigen und gut aufeinander abgestimmten Instrumente so wirken, dass sie einen bestimmten Subjekttypus erzeugen sollen – entsprechend der gesellschaftlichen Erwartungen und Erfordernisse. Sicher bleibt dabei die Frage der Freiheit, obwohl angesprochen, so doch eher ausgeklammert; andererseits haben Wall und Hudelmaier an keiner Stelle ihrer Arbeit Absicht und Wirkung kurzgeschlossen.
%C DEU
%C Tübingen
%G de
%9 M.A. thesis
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